Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.
Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.

Die Würde des Predigtamtes

Von: Gisela Kittel

Die Fälle ungedeihlicher Abberufungen aus einem Pfarrdienstauftrag häufen sich – doch sie beschädigen das Predigtamt, die Kirche, ja das Evangelium. Gisela Kittel schildert zwei besonders dramatische und eindrückliche Beispiele und verteidigt demgegenüber die ­Würde eines freien Verkündigungsamts.1

 

Kurzerhand abgesägt

Durch Neuwahl des Kirchenvorstands im März 2012 sind in einer Kirchengemeinde im Emsland 6 von 8 Kirchenvorstandsmitgliedern neu in das Gremium gekommen (6 der 8 Mitglieder des alten Vorstands, mit dem der Gemeindepfarrer gut hatte zusammenarbeiten können, waren aus unterschiedlichen privaten Gründen nicht mehr angetreten). Der neu gebildete Vorstand wird am 12. Juni in sein Amt eingeführt. Nach fünf Monaten – der neue Vorstand hat erst fünfmal getagt – kommt am 8. November der Superintendent in die Kirchenvorstandssitzung und die Tagesordnung wird plötzlich durch einen neuen Punkt erweitert. Dazu wird der Gemeindepfarrer für 40 Minuten vor die Tür geschickt. Wieder hereingerufen, erfährt er aus dem Mund des Superintendenten – allerdings nach Zeugenaussagen in verallgemeinernder und verschärfter Form –, was die Kirchenältesten, durch den Superintendenten dazu aufgefordert, gegen ihn vorgebracht hätten. Überrascht und schockiert, da völlig ahnungslos, bittet der Pfarrer, doch erst einmal allein mit seinen Kirchenältesten über deren Kritik an seiner Arbeit reden zu können. Doch dazu kommt es nicht. Vier Tage später, am 12. November, beantragt der Superintendent in Absprache mit dem Kirchenvorstand beim Landeskirchenamt in Hannover, das Verfahren wegen einer »nachhaltigen Störung in der Wahrnehmung des Dienstes« nach §79 (2) 5 und §80 (1) EKD gegen den Gemeindepfarrer zu eröffnen. Und die Kirchenleitung zieht das Verfahren durch. Den Kirchenältesten wird (es gibt dafür Belege) sogar verboten, Gespräche zur Konfliktbewältigung mit dem Pfarrer zu führen. Dann, am 27. Januar 2013, kommt es zur offiziellen Eröffnung des Verfahrens. Der Pfarrer wird von seinen Ämtern entbunden, der völlig überraschten Gemeinde dies durch Abkündigung und Zeitungsnotiz bekannt gegeben. Wieder einige Monate später, am 12. August 2013, erfolgt die Versetzung in den Wartestand. Der Gemeindepfarrer wird mit einem befristeten Beschäftigungsauftrag zur Mitarbeit in drei Altenheimen eingesetzt, sein Gehalt auf 75% abgesenkt.

Dass ein Vertrauensverlust, von Kirchenältesten behauptet, in keiner Weise zu hinterfragen sei, lässt sich in einem Aufsatz von Traugott Schall im Oktoberheft des »Deutschen Pfarrerblatts« nachlesen.2 Dort ist auch zu lernen, nach welchen gruppendynamischen Gesetzen sich eine Stimmung in einem Gremium, das von ein oder zwei Leitpersonen dominiert wird, gegen eine ausgewählte Person ausbreiten kann.

 

Eine zweifelhafte Gemeindeumfrage …

Ein zweites Fallbeispiel ereignete sich in der Evang. Kirche von Hessen und Nassau, im Hoch-Taunuskreis. Ein dortiges Gemeindeglied hat seine Erinnerung aufgeschrieben:

»Am Anfang der Initiative standen nur ein paar Worte: ›weißt Du schon, dass der Kirchenvorstand Pfarrer … ›entlassen‹ hat?‹ Die Ehefrau eines damaligen KV-Mitgliedes stellte mir diese Frage, als wir uns nach den Sommerferien vor der Schule begegneten. Das war am 08.08.2011.

Sie hatte tatsächlich ›entlassen‹ gesagt und obwohl ich damals überhaupt keine Kenntnisse hinsichtlich KGO und Pfarrdienstgesetz hatte, erschien mir dies unwahrscheinlich. ›Doch, doch‹, beharrte sie, Pfarrer … hätte im letzten Gemeindebrief etwas zum Ergebnis der Umfrageaktion geschrieben. Dies hätte er nicht tun sollen.

Zum einen hatte ich Zweifel, ob die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen derartigen Vorgang überhaupt gegeben sind (›der Pfarrer ist doch nicht der Angestellte des KV – oder?‹), zum anderen erschien mir die Begründung ­absurd.

Ich setzte mich telefonisch mit dem oben erwähnten KV-Mitglied in Verbindung, unsere Familien waren gut befreundet. Er bestätigte die Aussage seiner Ehefrau. Gedächtnisprotokoll: ›der Pfarrer ist der Angestellte des KV und wenn er so etwas tut, dann muss er mit Konsequenzen rechnen. Ich hätte ihn (Pfarrer …) nicht für so dumm gehalten‹. Im Verlauf des Telefonates verwies der Freund auf seine Schweigepflicht. Mir war klar, auf ihn oder seine Frau konnte ich mich nicht berufen, denn ich wollte die beiden nicht in Schwierigkeiten bringen.«

Was war geschehen? Nach der Kirchenvorstandswahl 2009 wurde ein Mann zum Vorsitzenden dieses Gremiums gewählt, der während seiner Berufsjahre als Direktor eine große Versicherungsgesellschaft geführt hatte. Nun war er im Ruhestand und wollte seine Tatkraft seiner Kirchengemeinde widmen. Auf die Frage einer Reporterin noch in späterer Zeit, was er denn Positives über den Pfarrer sagen könne, kam die Antwort: »Was er sehr gut macht, das sind die Kasualien, Taufen, Trauungen, Beerdigungen und Gottesdienste« (Taunuszeitung am 22.8.2012). Trotzdem war Herr … mit der Arbeit seines Gemeindepfarrers (der übrigens in dieser Gemeinde nur eine halbe Stelle innehatte, die andere Hälfte im Nachbarort) nicht zufrieden. »Wir wünschen uns eine volle Kirche und ein lebendigeres Gemeindeleben … ›Wachsen gegen den Trend‹ heißt ein Buchtitel, der die erfolgreichen Beispiele – auch jahrelanger neuer Anstrengungen – einzeln, Gemeinde für Gemeinde vorstellt« (Aus dem Protokoll der zur Besprechung der Umfrageergebnisse am 25.8.2011 einberufenen Gemeindeversammlung).

So begann der Kirchenvorstand unter dem Einfluss seines Vorsitzenden (von einigen Vorstehern mit »Chef« angeredet) eine Umfrageaktion, in der die Gemeinde ihre Wünsche vor allem bezüglich der Gottesdienstgestaltung einbringen sollte (mehr neue/modernere Lieder? Themengottesdienste? besondere Musik? Mitgestaltung des Gottesdienstes auch durch andere Personen? etc.) Ungefähr 2000 Fragebögen wurden verschickt, doch nur 40 kamen zurück, davon 7 von Kirchenältesten und Konfirmanden ausgefüllt. Trotzdem wurde die Aktion vom Kirchenvorstand in der Presse als Erfolg hingestellt. »Die Resonanz ist erstaunlich gut; viele Fragebögen kamen zurück« (Evangelische Sonntags-Zeitung vom 21.7.2011). Da meldet sich auch der Gemeindepfarrer zu Wort. Zurückhaltend, freundlich, durchaus konstruktiv schreibt er im Gemeindebrief Nr. 162/Juli – September 2011, S. 5f: »Ein schwieriger Punkt ist die Liedfrage. ›Mehr neue/moderne Lieder wären schön …‹ heißt es in unserer Umfrage. Etwa 70% fanden diese Formulierung zutreffend. Es ist allerdings nicht leicht für mich als Pfarrer, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Denn es ist ja nicht klar, welche modernen Lieder gemeint sind. Außerdem werden im Gottesdienst regelmäßig ›moderne‹ Lieder gesungen; Lieder aus den letzten 40 Jahren des letzten Jahrhunderts. Insgesamt muss ich sagen, trägt die Formulierung der einzelnen Fragen durch den Gebrauch des Konjunktivs, also der Verben ›hätte, könnte und wäre‹ leider dazu bei, dass die Umfrage merkwürdig unscharf und damit auch unverbindlich bleibt. … Überhaupt muss man sagen, dass die geringe Beteiligung an unserer Umfrage, wir haben 40 Umfragebögen ausgewertet, … keine wirkliche Grundlage für verantwortliches gemeindliches Handeln ­bietet. Ich hätte mir eine größere Beteiligung gewünscht.«

 

… und ihre Folgen

Diese Stellungnahme beschwor den Zorn des »Chefs« herauf. Noch im August kommt es zu einer informellen Sitzung der Kirchenvorsteher in Abwesenheit des Pfarrers, und man beschließt bei einer Gegenstimme, dass der Vorsitzende mit dem Pfarrer ein »Personalgespräch« führen solle. In ihm vermittelt der Vorsitzende dem Gemeindepfarrer, dabei die Fragestellung grob verändernd, der Kirchenvorstand habe mit 8:1 dafür votiert, dass er gehen soll. Doch inzwischen sind Nachrichten in die Gemeinde durchgesickert. Es kommt zu Unruhe: »Wieso nimmt uns der Kirchenvorstand unseren Pfarrer weg? Auch wir wollen gefragt werden!« Eine Gemeindeinitiative gründet sich und bittet den Propst um ein Gespräch, der die Hilfesuchenden jedoch an den Dekan verweist.

Ende September kommt der Dekan – nicht, um sich hinter den bedrängten Pfarrer zu stellen; nicht um dem Kirchenvorstand klarzumachen, dass er nicht einfach einen Pfarrer absetzen kann; nicht um zu verdeutlichen, dass Fragen der Gottesdienstgestaltung nun wirklich Sache des mit der Verkündigung beauftragten Pfarrers sind. Kirchenälteste können ihn beraten, aber nicht Neuerungen erzwingen. Der Dekan kommt, um für Ruhe zu sorgen und vor allem den Kirchenvorstand, besonders dessen »Chef«, zu besänftigen. Und so findet man eine Sprachregelung, gut abgeklopft, der – unter Druck – auch der Gemeindepfarrer (er ist kein Kämpfer) zustimmt. Sie ist im Gemeindebrief Nr. 163/Dezember 2011 – Februar 2012, S. 7, veröffentlicht: »Zwischen Kirchenvorstand und Pfr. … gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Gemeindearbeit. Deshalb sind der Kirchenvorstand und Pfr. … übereingekommen, dass Pfr. … in absehbarer Zeit sich neuen Aufgaben stellen wird.« Ohne Absprache sind dann noch die Sätze angefügt: »Pfr. … hatte ohnehin in seiner Lebensplanung, dass er sich noch einmal neuen Herausforderungen stellen wollte. Das ist ein normaler Vorgang.«

Die Gemeindeinitiative erreichte gegen den Widerstand des Dekans eine Gemeindeversammlung (es sollten später noch weitere, auch nicht genehmigte Versammlungen folgen), zu der ca. 120 Gemeindeglieder kamen. Sie forderte eine Mediation, die der Pfarrer befürwortete, der Kirchenvorstand jedoch zunächst ablehnte. Im Frühsommer kam sie dann doch zustande, allerdings um gleich wieder abgebrochen zu werden. Schon nach der zweiten Sitzung verkündete die durch die Kirchenleitung ausgesuchte Mediatorin aus dem IPOS-Institut Friedberg, dass die Mediation gescheitert sei.

Es folgte die Erzwingung des Weggangs des Gemeindepfarrers zum 31.5.2013 mit der unverhohlenen Drohung, sonst ein Ungedeihlichkeitsverfahren gegen ihn zu eröffnen; der Rücktritt auch des bisherigen Kirchenvorstands, wobei der »Chef« als Mitglied in den Evang. Regionalverwaltungsverband der Region aufstieg; die Übernahme der Gemeindeleitung durch den Dekan-Synodal-Vorstand zur Vorbereitung der nächsten Kirchenvorstandswahl; der Rückgang der sonntäglichen Gottesdienstteilnehmer auf nur noch fünf bis sechs Personen; Frustration und innerer Rückzug derer, die sich für ihren Pfarrer (bis hin zum Besuch in der Darmstädter Kirchenleitung) eingesetzt hatten und erleben mussten, dass die Stimme der Gemeinde in ihrer Kirche keinerlei Beachtung fand. Der vertriebene Gemeindepfarrer ist bis heute als Vertretungspfarrer in befristeten Beschäftigungsverhältnissen eingesetzt und weiß noch nicht, wie es mit ihm beruflich weitergehen soll.

 

Gottes Diener – jedermanns Lump?

Sind Gemeindepfarrer und Gemeindepfarrerinnen nur Befehlsempfänger und Bedienstete ihrer Presbyterien? Hat ein Kirchenvorstand alle Macht und ist er, einmal gewählt – bzw. durch Nicht-Wahl bestätigt3 – niemandem mehr Rechenschaft schuldig, auch nicht der Gemeinde, in deren Namen er doch als »Vertretungsorgan« angeblich agiert? Kann er, sobald es zu Konflikten, ja auch nur zu unterschiedlichen Ansichten in Sachfragen kommt, jeder Zeit die »rote Karte« ziehen und mit der Behauptung, kein Vertrauen mehr zum Gemeindepfarrer oder der Gemeindepfarrerin zu haben, deren Versetzung beantragen? Und unsere Kirchenbehörden: Kennen sie, wenn Konflikte, welcher Art auch immer, an sie herangetragen werden, keine anderen Wege als die Bereitstellung ihrer Machtmittel zur Durchsetzung der nicht mehr hinterfragbaren Mehrheitsmeinung eines Kirchenvorstands?

Ich möchte an eine ganz andere Tradition erinnern, die Jahrhunderte lang in der evangelischen Kirche Richtschnur war und dem Predigtamt grundlegendes Gewicht gab.4 Auszüge aus einem Brief des alten Luther aus dem Jahr 1543 seien daher den folgenden Ausführungen vorangestellt.5 Luther vermahnt in diesem Schreiben voller Zorn den Amtmann und Rat der Stadt Creuzburg, weil diese ihren Pfarrer vertreiben wollen. Nicht etwa, weil er eine falsche Lehre verbreitete oder einen anstößigen Lebenswandel führte, soll der Prediger Georg Spenlein gehen, sondern allein deshalb, weil die Angesprochenen »einen Gram auf ihn geworfen haben«.

»Ich hoffe ia, yhr werdet so viel Christlichs verstands haben, das Ein pfarrampt, predigampt und das Euangelion sey nicht unser, noch einiges menschen, ia auch keines Engels, Sondern allein Gottes unsers herren, ders mit seinem blut uns erworben, geschenckt und gestifftet hat zu unser seligkeit. Darumb er gar hart urteilet die verechter und spricht: ›Wer euch verachtet, der verachtet mich‘ …

So habt yhr auch das zu bedencken, Weil da kein andere ursach und schuld ist, denn das yhr einen gram auff yhn geworffen habt, on sein verdienst, ia umb seines grossen verdiensts und trewen predigt willen, das es nicht zu thun noch muglich sein will, umb ewrs grams und furnemens willen, einem solchen wolbezeugten pfarrher gewalt und unrecht zu thun und mit dreck auszuwerffen …

Dazu wenn der gemein man und die liebe Jugent solch grewlich exempel sehen wurde, das man gelerte, frome Pfarrher fur yhre muhe und trewe dienst also mit dreck und schanden belohnet, Wer will ein kind zur schule zihen? Wer will mit seiner kost (auf seine Kosten) studirn? Wo wollen wir denn pfarrher nehmen? Ja diesen schaden sucht der Teuffel durch solch ewr und ewrs Gleichen mutwille. …

Ihr seid nicht herrn uber die pfarrhen und predigtampt, habt sie nicht gestifftet, Sondern allein Gottes son, Habt auch nichts dazu gegeben, und viel weniger recht dran, weder (als) der Teuffel am hymel reich, Solt sie nicht meistern noch leren, auch nicht wehren zu straffen, denn es ist Gottes und nicht menschen straffe … Ewr keiner ist, ders leiden kann, das ein frembder yhm seinen diener urlaubt oder veriaget, des er nicht emperen kundte. Ja es ist kein hirten bube so geringe, der von einem frembden herrn ein krum wort lidde, allein Gottes diener, der sol und mus ydermans hoddel (Lump) sein, und alles von ydermann leiden. Dagegen man nichts von yhm, auch nicht Gottes selbs wort will oder kann leiden. Solche vermanung, bitte ich, wollet gutlich verstehen, die ich trewlich meine. Denn es ist Gottes vermanung.«

 

Ein göttlich gestiftetes Amt der Versöhnung

Hinter der Auffassung Luthers wie auch der anderen Reformatoren, die die Stiftung des Predigtamtes durch Gott selbst hervorheben, steht der große Briefabschnitt des Apostels Paulus, der von dem Versöhnungshandeln Gottes spricht: »Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns« (2. Kor. 5,17-20).

Gott hat nicht nur die große Kluft zwischen Himmel und Erde durchschritten, sich nicht nur aus seiner Höhe herabgebeugt und uns in unserer Verlorenheit und Gottesferne aufgesucht. Er hat unter uns auch das »Wort von der Versöhnung« »aufgerichtet«, indem er das »Amt«, den »Dienst«, stiftete, der »die Versöhnung predigt« (Übersetzung Luthers). »Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist« (1. Kor. 2,9), dass sich Gott in dem gekreuzigten Jesus Christus in die Tiefe dieser Welt selbst hineingab, um uns aus dieser Tiefe zu erretten, das soll nun laut werden. Das soll verkündigt werden durch das Amt, das Gott selbst gestiftet hat.

Dieses Amt ist nicht der Gemeinde oder irgendwelchen Menschen gegeben, sodass sie darüber verfügen und abstimmen könnten, was ihnen denn gepredigt werden soll und ob sie es überhaupt noch brauchen. Es ist in die Gemeinde hineingegeben, damit nicht nur nach außen das Evangelium öffentlich verkündigt wird, sondern damit allererst der Leib Jesu Christi, die Gemeinde selbst, bei der Wahrheit des Evangeliums erhalten bleibt.6

»Und er hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes …, damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch trügerisches Spiel der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen.« (Eph. 4,11-14)

 

In der Gemeinde und ihr gegenüber – Amt und Ordination

Weil das Amt der Verkündigung und Lehre fundamental zum Sein der Kirche gehört, ist schon sehr früh (vgl. die Pastoralbriefe 1. Tim. 4,14; 5,22; 2. Tim. 1,6) eine besondere, auf das Evangelium gegründete gottesdienstliche Handlung ausgebildet worden – die Ordination.7 In ihr wurden und werden Glieder der Gemeinde, die eine gründliche Ausbildung in der Heiligen Schrift und der Lehrtradition der Apostel erhalten haben, in das Predigtamt berufen. Ihnen wird die öffentliche Verkündigung des Evangeliums anvertraut, und zugleich werden sie auf dieses Evangelium und die es bezeugenden Bekenntnisse der Kirche verpflichtet.

In meiner reformiert geprägten lippischen Heimatkirche beginnt der Ordinationsvorhalt mit den Worten: »Nach dem Bekenntnis und der Ordnung unserer Kirche hat das Predigtamt seinen Ursprung in Jesus Christus, dem alleinigen Herrn und Haupt seiner Gemeinde. Er selber will im Geist und in der Wahrheit Prediger seines Wortes sein. In seiner Erwählung und Treue gibt er dem Predigtamt Vollmacht.« Und die erste an den angehenden jungen Pfarrer oder die angehende Pfarrerin gestellte Frage lautete noch in den 70er Jahren: »Bist du gewiß, daß du nicht allein von Menschen, sondern von Gott selber berufen wirst, ihm in der Kirche unseres Herrn Jesus Christus zu dienen – und bist du bereit, dein Amt als Prediger, Lehrer und Seelsorger unter dem Beistand des Heiligen Geistes treu auszurichten?«8

So steht der ordinierte Prediger des Evangeliums oder die ordinierte Predigerin der Gemeinde gegenüber! Auf der einen Seite sind sie Gemeindeglieder wie alle anderen auch, durch keine Weihehandlung herausgehoben. Auf der anderen Seite sind sie aber doch in eine besondere Verantwortung und unter einen besonderen Auftrag gestellt. Sie sollen, gebunden an die Schrift, das andere Wort, das fremde Wort sagen, das sich kein Mensch selbst sagen kann: Gottes Wort, welches tötet und lebendig macht; das den alten Adam richtet und den neuen Menschen erweckt; das der Welt ansagt, dass sie einen Herrn hat, Jesus Christus, und seiner Zukunft entgegen geht. Und diese Ansage geschieht nicht nur in der Kanzelrede! Der Gottesdienst mit seiner Liturgie, seinen Liedern und Gebeten ist auf diese Verkündigung ausgerichtet. In der Seelsorge kommt das »andere Wort« zum Tragen, und auch der Gemeindeaufbau muss sich an dieser Botschaft orientieren.

 

Wer ist zu einem solchen Dienst geschickt?

Schon der Apostel Paulus musste sich gegen falsche Maßstäbe wehren. Ein Stümper in der Rede sei er, so wurde in Korinth geredet, schwächlich im Auftreten. Und überhaupt sei ihm gar nicht abzuspüren, dass der Heilige Geist in ihm sei. Die Antwort des Apostels lesen wir in 1. Kor. 4,1f: »Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden.« – Nicht mehr! Aber Treue in der Weitergabe des unverkürzten Evangeliums!

Also kein imposanter Kompetenzenkatalog ist angesagt, wie er von der rheinischen Synode im Jahr 2007 beschlossen wurde mit Anforderungskriterien an den Pfarrberuf, die den Himmel stürmen oder besser gesagt: zum Himmel schreien. Acht Bereiche werden in den rheinischen Richtlinien aufgelistet mit insgesamt 22 Kompetenzen, zu denen »Auftreten und Ausstrahlung«, »Überzeugungsfähigkeit«, »Motivationskraft«, »Belastbarkeit und Leistung«, »Sprachliche Ausdrucksfähigkeit«, »Innere Stärke« etc. gehören.

»Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen«, hält der Apostel Paulus dagegen (2. Kor. 4,7). Wir haben den Schatz des Evangeliums nur in unserer irdischen, gebrochenen Menschlichkeit. Und das ist gut so! »Damit die überschwängliche Kraft« – also der Überschuss, das »Mehr an Kraft« (Ernst Fuchs) – »von Gott sei und nicht von uns selbst.« So kann Paulus im gleichen Brief an späterer Stelle (12,9b) geradezu paradox formulieren: »Darum will ich mich am allerliebsten meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne.«

Nein, es ist nicht die Aufgabe und es steht auch nicht in der Macht eines Predigers, Kirchenräume zu füllen, eine Gemeinde lebendiger zu machen, durch die eigene ausstrahlende, anziehende oder faszinierende Persönlichkeit Menschen in die Kirche zu holen. Sondern das allein ist sein Dienst, dass er, sich selbst zurücknehmend, der Zeigefinger ist9, der auf Gottes Wort hinweist, auf das Wort in den Worten, welches Gott heute – durch das Zeugnis der Schrift hindurch – dem Prediger selbst und seiner Gemeinde sagt. Ob dieses Wort Wirkung zeigt, ob es ankommt, ob es gehört wird, das sollen und dürfen wir getrost dem Herrn der Kirche, Jesus Christus, und der Kraft seines Geistes überlassen.10

In viel bedrängender Zeit hat einmal Martin Niemöller einen Satz gesagt, der dann – nach seiner Verhaftung 1937 – als Postkartenbotschaft unter den Gliedern der Bekennenden Kirche verschickt wurde: »Wir haben nicht zu fragen, wieviel wir uns zutrauen; sondern wir werden gefragt, ob wir Gottes Wort zutrauen, daß es Gottes Wort ist und tut, was es sagt!«

 

Wer regiert die Kirche?

Haben wir dies alles heute in unserer Kirche, die sich noch immer evangelisch nennt und auf das Erbe der Reformation beruft, so ganz und gar vergessen? Wo sind die Superintendenten, Dekane, Pröpste, die in Konflikten wie den beschriebenen in die Kirchenvorstände hineingehen, den Gemeindepfarrer oder die Pfarrerin nicht vor die Tür schicken, sondern mit allen gemeinsam ein aufklärendes und vor allem geistliches Gespräch führen? Wo sind die Kirchenleitungen, die mit dem ernst machen, was in den Präambeln und Grundartikeln ihrer Verfassungen steht – dass nicht sie, auch nicht ihre Synoden, die Kirche regieren, sondern die Kirche ein Haupt hat, einen Herrn, und dass sie bei allen Entscheidungen – auch den Entscheidungen nach innen – zu bedenken haben, was dem Evangelium von Jesus Christus gemäß ist.

Doch auch der Pfarrerschaft muss die Frage gestellt werden, wer oder was sie denn noch sein will. Sind Pfarrer und Pfarrerinnen Manager eines Gemeindebetriebs? Freizeitgestalter? Moderatoren, die möglichst viele Gemeindeaktivitäten unter einem Dach halten? Oder sind sie »ministri verbi divini«, Diener des Wortes Gottes, deren eigentliche Aufgabe darin besteht, auf dieses Wort zu hören und es heutigen Menschen in Treue auszurichten?

Ich wage zu behaupten: Wer nicht mehr minister oder ministra verbi divini, Diener oder Dienerin des Wortes Gottes, sein will, wird zum Bediensteten der Menschen. Wer sich nicht mehr Jesus Christus zu Eigen weiß, fällt in die Hände der Menschen (vgl. 2. Sam. 24,14). Denn Freiräume gibt es nicht. Wir alle, auch unsere Kirchen und ihre Leitungen, werden regiert, entweder von Jesus Christus oder von den Ideologien, Trends und Mächten dieser Welt.

Möge das Predigtamt in unserer Kirche die Würde zurückerhalten, die ihm zur Erhaltung einer auf das Wort Christi hörenden Kirche von Gott gegeben ist.

 

Anmerkungen:

1 Vortrag beim Rheinischen Pfarrertag am 3.11.2014.

2 Traugott Schall, Ade, Freiheit der Verkündigung und Seelsorge! Eine pastoralpsychologische Analyse, DPfBl Heft 10/2014, 563-567.

3 Vielerorts finden Kirchenvorstandswahlen nur noch in Ausnahmefällen statt. Man ist froh, überhaupt genug Kandidaten und Kandidatinnen zu finden, die sich zur Übernahme eines Ältestenamtes bereitfinden. Wenn man dann trotz aller Bemühungen die vorgesehene Zahl der Ältesten nicht erfüllen kann, werden weitere Personen kooptiert.

4 Nicht nur für Luther, auch für Calvin und die reformierten Väter war das Predigtamt das Grundamt der Kirche, weil die auf das Evangelium sich gründende Gemeinde auch allein durch Gottes Wort regiert werden sollte. Vgl. Calvin, Institutio IV 3,1-8; Genfer Katechismus, Fragen 307 und 308; Zweites Helvetisches Bekenntnis, im deutschsprachigen Raum von großer Bedeutung geworden und von Heinrich Bullinger verfasst, Artikel 1 und 18.

5 WA Br 10, Nr. 3844. Eberhard Dietrich hat in seinen vielfachen Veröffentlichungen zum Thema immer wieder auf diesen Brief und andere Briefe Luthers hingewiesen. Vgl. »Wider Kirchenraub und Kläffer. Luthers Ablehnung einer Zwangsversetzung von Pfarrern«, in: DPfBl 10/2008, oder ders., Die bessere Gerechtigkeit. Plädoyer für ein Pfarrdienstrecht, das Bibel und Bekenntnis gerecht wird, Gabriele Schäfer Verlag 2010, 16f.

6 Zu Luthers Verständnis des Predigtamts und warum dieses nicht, wie oft behauptet, aus dem allgemeinen Priestertum der Glaubenden und Getauften hergeleitet werden kann, vgl. Werner Führer, Das Amt der Kirche. Das reformatorische Verständnis des geistlichen Amtes im ökumenischen Kontext, Neuendettelsau 2001, 96-115. Die reformierten Bekenntnisschriften kennen eine solche Zusammenbindung ohnehin nicht. Im Zweiten Helvetischen Bekenntnis wird in Abschnitt 18 sogar ausdrücklich betont, dass das Allgemeine Priestertum und das Amt der Verkündigung »gänzlich verschieden« voneinander sind. Die Präambel des rheinischen Ordinationsgesetzes vom 13. Januar 2005, in dem der Dienst der öffentlichen Wortverkündigung als Dienst der Gemeinde und damit als »eine Gestalt des Priestertums aller Gläubigen« hingestellt wird, entspricht somit nicht reformatorischer Theologie.

7 Zum ntl. Befund vgl. den Aufsatz von Otfried Hofius, Die Ordination zum Amt der Kirche und die apostolische Sukzession nach dem Zeugnis der Pastoralbriefe, ZThK 107, 2010, 261-284.

8 Agende für die evangelisch-reformierten Gemeinden der Lippischen Landeskirche, 1971, 100f. Der Ordinationsvorhalt in der rheinischen Kirche, der aus der Agende der UEK übernommen wurde, ist dagegen kritisch zu betrachten. Er zieht die falsche Weichenstellung der Präambel im rheinischen Ordinationsgesetz weiter aus. Wenn es nun heißt, dass der ordinierte Bruder oder die Schwester »in Gottesdienst, Seelsorge und Unterricht« am Aufbau der Gemeinde nur »mitwirken« soll, muss gefragt werden, wer denn außer und vor ihm auch noch wirkt, in welcher Ausrichtung und auf welcher Grundlage? Gemeindeaufbau kann auch ganz anders orientiert sein, an dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, den Bedürfnissen des religiösen Marktes oder auch nur marktwirtschaftlich am finanziellen Gewinn. Soll dann der in die theologische Verantwortung gerufene Prediger des Evangeliums zurücktreten und Gottes Wort nur noch als religiöse Zugabe oder Überbau anbieten? Auch in dieser Agenden-Formulierung zeigt sich nach meiner Sicht die immer weiter fortschreitende Entwertung des Predigt- oder Pastorenamts in unseren Kirchen.

9 In einer in der Nachschrift Rörers erhaltenen Predigt aus dem Jahr 1535 gebraucht Luther noch viele weitere Metaphern für die Rolle der Prediger. Sie sind nur das »Instrument« und »Mittel«, ja des Herrn »Löffel« und »Hand«, durch die Christus redet und seine Gaben darreicht. WA 41; 454f. Vgl. auch W. Führer, a.a.O., 240f.

10 Könnte es nicht sein, dass Gott an den »All-Kompetenten« vorübergeht und gerade das Wirken eines Schwachen, eines Ausgemusterten, segnet? Welche Kirchenleitung darf es wagen, Gott so ins Handwerk zu greifen?

 

Über den Autor

Prof. i.R. Dr. Gisela Kittel, Lehrtätigkeit im Rahmen der Lehramtsstudiengänge an der Gesamthochschule Siegen und der Universität Bielefeld im Fach Evang. Theologie und ihre Didaktik, Schwerpunkte: AT und NT, von 1977-1981 Pfarrerin in der Lippischen Landeskirche, seit 2010 Mitglied im Verein »D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche e.V.«.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft: 2/2015

 

 

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