Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.
Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.
Die Frau am Jakobsbrunnen von Sieger Köder

Goldmarie und/oder die Frau am Brunnen…

Ein altes Märchen erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in einen Brunnen springt um ihre Spindel zu retten, die sie mit  Blut verschmutzt hatte. Die Frau gelangt durch diesen Sprung in ein anderes Reich, in eine andere Realität. Dort wird sie von einem  Apfelbaum gebeten, ihn zu schütteln um die reifen Äpfel zu ernten. Ein Stück weiter braucht ein Backofen  ihre Hilfe, damit die guten Brote darin nicht verbrennen. Gerne fasst die junge Frau zu. Den reichen Gaben der Natur, den Äpfeln,  hilft sie ebenso gerne wie den Früchten des Feldes und der menschlichen Arbeit, den Broten.

Auf ihrem  Weg kommt sie an das Haus der Frau Holle, in deren Dienst sie tritt. Tüchtig schüttelt sie nun täglich die Federbetten, dass die Federn nur so fliegen und als weiße, kühle Schneeflocken zur Erde fallen. So beschert die junge Frau sowohl der Natur als auch den Menschen auf der Erde die erholsame Zeit der winterlichen Ruhe, die Zeit des Schlafes,     des Kräftesammelns, die Zeit der inneren Einkehr.  Am Ende ihres Aufenthaltes in Frau Holles Reich kehrt die junge Frau reich beschenkt in ihren eigenen Alltag zurück.“Kikerikie! Unsere goldene Jungfrau  ist wieder hie‘!“ , begrüßt sie der Hahn.

Ein Bild in der Ausstellung biblischer Bilder von Sieger Köder erinnerte mich an dieses Märchen. Es ist das Bild von der Samariterin am Jakobsbrunnen. Eine junge Frau blickt in den tiefen Brunnen hinunter bis auf das Wasser und sieht darin ihr Spiegelbild.  Aber  in Sieger Köders Bild erblickt sie nicht nur ihr eigenes Spiegelbild! Es spiegelt sich auch das Bild ihres Gesprächspartners im Wasser, das Bild eines Mannes, den sie  am Brunnen getroffen hat. Ungewöhnlich an dieser Begegnung ist, dass der Mann sie um einen Schluck Wasser bittet – ein  Jude ganz offensichtlich, der eine Samariterin anspricht! Es entwickelt sich ein Gespräch, das weit über einen erfrischenden Schluck Wasser hinausgeht. Der Blick in die Tiefe des Brunnens ermöglicht der Frau einen Blick in die Tiefe ihres Lebens, ihrer Seele. Sie begegnet sich selbst und erkennt die Mühsal und Plackerei ihres Alltages. Lebendiges Wasser, das der Fremde ihr anbietet – ja, das wäre gut! Lebendiges Leben, das über das bloße Funktionieren hinausgeht, Lebendigkeit im Urgrund ihres Seins, das wünscht sich die Frau. Sie  erkennt in dem Fremden einen Menschen – und mehr? - , den sie nach allem fragen kann, was sie wirklich beschäftigt. Sie fragt ihn nach Gott, sie fragt nach der rechten Art zu beten, nach dem rechten, dem richtigen Ort für Anbetung. Die Antwort ist erstaunlich: das Gebet, die Anbetung, sind nicht an einen Ort gebunden, nicht an Tempel, Kirchen und heilige Orte auf Bergen, sondern sie geschehen im Geist und in der Wahrheit, also überall dort, wo ein Mensch Gott in der Tiefe seiner Seele begegnet. Hier erfährt der Mensch Gottes Liebe und Zuwendung, die er nötig braucht, wenn er sich selbst begegnen und aushalten darf , muss und kann.

  Jetzt sieht die Frau, dass ihr Gesprächspartner wirklich mehr ist, als nur ein Mensch. Sie sagt: „Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkünden.“ Ihr Gesprächspartner, Jesus,  spricht zu ihr: „Ich bin’s, der mit dir redet.“ (Joh.4, 25-26).

Zwölf Uhr Mittags – eine Frau aus Samarien begegnet Gott in Jesus Christus, dem Mann am Brunnen, dem Bild im Brunnen ihrer Seele.  Ihr ganzes Leben verändert sich dadurch. Sie wird zur Botin Gottes.   „Kommt , seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe, ob ER nicht der Christus sei!“(Joh.4, 29), ruft sie den Menschen ihrer Stadt zu. Und die? „Da  gingen sie  aus der Stadt hinaus und kamen zu IHM.“ (V.30)

Es ist ein großes Geschenk, in den Brunnen der eigenen Seele zu blicken und Gott zu finden, der unser Leben mit dem Wasser des Lebens füllt und überfließen lässt! Wir müssen uns nur trauen, wirklich in die Tiefe zu sehen und zu steigen, alles auszuhalten, was dabei über uns kommt und schließlich den Blick wirklich auf Gott und Seine Liebe zu richten, die uns lebendiges Leben ermöglicht.

Was dann bei unserer Rückkehr in den Alltag wohl der Hahn kräht?

 

Christine Silla – Kiefer

Prädikantin der ev. Landeskirche Württemberg

 

 

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