Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.
Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.

Die Letzten werden die Ersten sein…

 

Egal, ob England, Schottland oder Wales – ich liebe Großbritannien. Im Sommer werden wir zwar wieder nach Italien fahren – das Wetter ist (bisher) verlässlich, Kultur und Kunst sind überreichlich vorhanden und an das Essen ist unübertroffen - aber England ist m e i n  Land. Ich mag die Art der Menschen dort. Ruhig, höflich, ein bisschen Understatement , aber immer mit Stil – das ist meine Welt! Eines mag ich ganz besonders: das britische „Queuing“. Ob an der Bushaltestelle oder im Laden, im Museum oder wenn es was zu essen gibt: geduldig und höflich stellen sich die Briten in die Reihe;  niemand schubst und drängelt und selbst wenn man heute an der „Bushalte“ keine „wirkliche“ Schlange mehr bildet, wenn der Bus kommt, wissen sie, wer zuerst da war. Und der darf auch zuerst einsteigen. Ohne Geschubse und Gedrängle. „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ und die Briten haben offenbar begriffen, dass Schubsen und Drängeln die Dinge keinen Deut beschleunigen.

Mir mit meinem 1,58 tut das unglaublich gut. Ich hasse es,  im Gedränge zu versinken,  von allen Seiten umzingelt, nicht mehr zu sehen, was vorgeht , den heißen Atem der eiligen Mitmenschen unangenehm im Nacken zu spüren, die alternativ alle zwei Sekunden an den Rucksack stoßen, mir mit dem Einkaufswagen in den Rücken fahren oder den nächsten Schritt immer eine Sekunde vor mir machen und  deshalb zwangsweise bei jedem Schritt auf mich auflaufen. Ich hasse es, mir stets und ständig meinen Platz erkämpfen zu müssen.

Und ich frage mich, was ist bloß mit den Menschen los? Warum glauben wir eigentlich ständig, wir kämen zu kurz oder zu spät? Was treibt uns, dass wir rücksichtslos nur an uns denken und den anderen total aus dem Blick verlieren, dass wir uns vordrängeln und vorbeimogeln und weder Geduld noch Vertrauen haben, an die Reihe zu kommen, wenn die Zeit gekommen ist, wenn es recht ist und wenn es uns gebührt? Wir haben so viel – warum denkt dann jeder immer nur an sich und warum machen wir in der Überfülle einander auch noch unseren Platz streitig?

Das Bedenklichste, das mir in dieser Hinsicht übrigens passiert ist, war bei einem Festgottesdienst. Die Kirche war genagelt voll und es wurde Abendmahl gefeiert. Wie oft, wenn viele Menschen da sind, als „Wandelkommunion“ – die Katholiken kennen das ja gut, uns Evangelischen wird das erst allmählich vertraut: Man tritt reihenweise durch den Innengang zum Altar, empfängt die Hostie, taucht sie in den Wein und fädelt sich dann von der anderen Seite wieder in seine Bankreihe ein. Vorne beginnt… normalerweise.

Ich kann ja verstehen, dass man sich auf das Abendmahl freut (schließlich ist es ja ein Vorgeschmack auf das Himmelreich), aber dass sich nun als erstes Gläubige aus den mittleren Bankreihen erhoben, war doch überraschend und ganz und gar verheerend. Sie lösten mit ihrer Ungeduld eine Lawine aus, denn plötzlich schnellten panikartig alle von ihren Plätzen auf und drängten aus den Bänken in den Mittelgang, der sofort verstopft war. Damit aber nicht genug: im Stau, der nun entstanden war, schafften es einige doch, sich unbekümmert an den Wartenden vorbei nach vorne zu arbeiten - das übliche Drängeln und Schieben begann…

Schließlich ließ ich einer älteren Dame den Platz vor mir: „Wenn Sie es so eilig haben, dann gehen Sie doch einfach vor mich“. Das wollte sie nun doch nicht, sie sei geschubst worden“, behauptete sie, was sie nicht hinderte, im Laufe des weiteren Wartens, sich doch noch deutlich vor mich zu arbeiten – mit eben immer diesem einen kleinen Schritt voraus, von dem ich schon erzählte…

Ehrlich gesagt, eigentlich war ich bedient und kaum noch in der Stimmung das Abendmahl zu nehmen. Feiern wir da nicht Christi Gegenwart unter uns? Und feiern wir nicht Gemeinschaft? Und geht das, wenn man nur an sich selbst denkt, drängelt und schubst und andere rücksichtslos überholt und hinter sich lässt?

Und außerdem – welche Angst treibt einen eigentlich dabei? Sind Sie beim Abendmahl oder bei der Eucharistie schon einmal leer ausgegangen? Ich nicht, immer war genug für alle da.

Und so ist es auch im Himmelreich: Es ist genug für alle da. Jesus hat das im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt. 20, 1ff) anschaulich erzählt. Es endet mit den Worten:  „Die letzten werden die ersten sein“.

Vielleicht haben das die Briten besser begriffen als wir? Jedenfalls könnten wir uns etwas von ihrer Höflichkeit abgucken und von ihrer rücksichtsvollen Gelassenheit , etwas von der engelischen Art, geduldig zu warten, bis man an der Reihe ist.

Gott vergisst uns nicht – wir kommen alle an die Reihe und es ist genug für alle da - dessen können wir ganz sicher sein.

 

Barbara Vollmer, Pfarrerin

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