Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.
Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.

Wahlverwandtschaften…

Nein, ich meine nicht die edlen Paare in der Erzählung von JW Goethe – sondern die Wahlverwandten, die wir im Laufe unseres Lebens finden und zur Seite gestellt bekommen.

„O, haben Sie wieder Besuch von Ihrer Schwester?“ werde ich häufig gefragt, wenn meine Freundin bei mir zu Gast ist. Wir kennen uns aus dem Studium, haben also inzwischen fast 50 Jahre miteinander verbracht, unseren jeweiligen Lebensweg, wenn auch oft nur aus der Ferne, begleitet. Ich weiß nicht wie geborene Schwestern sind, aber wenn ich eine hätte, wäre sie hoffentlich so wie meine Wahlverwandtschafts-Schwester: gemeinsame Interessen, gemeinsame Wurzeln, gemeinsame Gedankenwelten. Zwischen meiner Freundin und mir passt es einfach. Diese lange Freundschaft  ist  viel mehr, als es sich sonst in biologischen Familien ereignet. -   

Ich beobachte, dass wir in eine Familie hineingeboren werden  oder hineinheiraten. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir dann auch ein innerliches Zusammengehörigkeitsgefühl haben, dass wir einander vertrauen, uns auf einander verlassen, für einander da sind in Zeiten der Not und der Freude.

Bei den Wahlverwandten ist das anders: da gibt es  mehr Distanz und zugleich mehr Nähe,

so paradox das auch klingen mag. Ich finde dort z.B. eine generationsübergreifend Teilnahme am jeweiligen Leben. Seit gut zwei Jahren habe ich eine kleine Enkeltochter ehrenhalber. Ihre Eltern fragten mich kurz nach ihrer Geburt, ob ich nicht die Großmutter vor Ort sein wolle, da die „echten“ Omas relativ weit weg wohnten. Für mich war und ist diese Anfrage eine große Ehre und Freude. Gerne gab ich mein Einverständnis. So bin ich als „GroMa“ inzwischen eine feste Bezugsperson im Leben meiner kleinen Enkelin und ihrer Eltern. Der Vormittag, den ich pro Woche mit der Kleinen verbringe, gefolgt von einem Mittagessen im „Familienkreis“, ist für mich jedes Mal ein Highlight. Zu beobachten, wie da ein kleiner Mensch sich entwickelt, entfaltet, dazulernt, spielt, trotzt, heranwächst – großartig!  Ich werde reich beschenkt durch die bedingungslose Zuneigung des kleinen Mädchens und die herzliche Freundschaft ihrer Eltern. Ich kann und darf sie sogar meinerseits im Falle der Not um Hilfe bitten, eine wunderbare Erfahrung! Eben  Wahlverwandtschaft…

Es gibt also mehr und andere Beziehungen als nur die des Blutes, der biologischen Zusammengehörigkeit. Im Lukas –Evangelium finden wir eine kurze Jesus-Geschichte zu diesem Thema: „Es kamen aber seine Mutter und seine Brüder zu ihm und konnten wegen der Menge nicht zu ihm gelangen. Da wurde ihm gesagt: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen dich sehen.  Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Meine Mutter und meine Brüder  sind diese, die Gottes Wort hören und tun.“ (Lukas 8, 19-21)

Wie spannend! Diese Dimension, in der Jesus seine „Verwandten“ sieht und beschreibt, zeigt uns die Möglichkeit der Wahl und des Willens zur wahren Verwandtschaft, zur Verwandtschaft untereinander und zur Beziehung zu Jesus, den wir unseren Bruder nennen.

 

Ich gerate nicht ungefragt wie durch meine Geburt in eine Familie, mit der ich blutsmäßig dann lebenslang verbunden bin, sondern ich kann mir daneben eine Familie wählen, einen Kreis, eine Familie, in der ich mich wohlfühle, in der ich getragen werde und die ich mittrage. Verbunden in der gemeinsamen Bewältigung des Lebens, im Dasein für- und miteinander, erfahre ich wahre Verwandtschaft, Verbundenheit im Geiste – am besten im guten Geist Gottes. Auf ihn hören und tun, was dem Nächsten – und mir - gut tut. So kann ich auch in verlässlicher Zuneigung die Verantwortung für ein „fremdes“ Kind übernehmen, das dann  sehr schnell ein geliebtes Enkelchen h.c. wird. Und so wird eine Freundin mit ganz anderem Elternhaus zur lieben Schwester. Lassen Sie uns unsere Wahlverwandtschaften  finden und wählen, denn Gott hat uns schon längst zu SEINER Wahlverwandtschaft erklärt!

 

Christine Silla-Kiefer

Prädikantin der evangelischen Landeskirche in Württemberg

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