Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.
Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.

Die dritte  Hälfte…

Seit einigen Jahren bin ich im Ruhestand. Ich sage immer: „Das ist jetzt meine dritte

Lebenshälfte!“  In der ersten Hälfte habe ich gelernt und studiert, in der zweiten wurde gearbeitet, die Familie versorgt, die alten Eltern gepflegt. Nun stehe ich in der dritten Hälfte, obgleich es die mathematisch gar nicht gibt. Aber ein Leben ist nicht nur Mathematik! Es ist  vor allem Begegnung. Zu Begegnungen der besonderen Art verhalf mir die Stadt Bad Wurzach, als vor einigen Jahren die Ü-60s zu einer Info-Veranstaltung über Institutionen unserer Stadt eingeladen wurden. „Wo und wie können und möchten Sie sich engagieren?“, wurden wir gefragt. Ich entschied mich für die Aufgabe einer Vorleserin, die ganz unterschiedlichen Zuhörergruppen eine bunte Mischung aus der Literatur verstellte.

In der Stadtbücherei lese ich seitdem für Kinder vor, im Kurhotel am Reischberg für Kurgäste und in der Reha-Klinik gehe ich in Krankenzimmer. Hatte ich gerade dort am Anfang eine Reihe von unbekannten Märchen zur Unterhaltung dabei – nach dem Motto: „Wenn Sie schon hier im Bett liegen müssen, freuen Sie sich vielleicht über eine hübsche Geschichte?“ – so wurden gerade diese Besuche mehr und mehr für mich Gelegenheiten zum Zuhören Ich höre viele unterschiedliche Lebensläufe, insbesondere von Frauen aus dem ländlichen Bereich, die ihr Leben lang geschafft haben und nie Zeit zum Ausspannen fanden. Viele von ihnen sind zehn bis zwanzig  Jahre älter als ich und erzählen nun langsam und oft stockend vom Krieg, von Flüchtlingselend, von der Nachkriegszeit.  Es tut ihnen gut, dies einmal auszusprechen und damit auch ein wenig zu verarbeiten. Mir sind diese Gespräche immer ein Geschenk. Die gelösten Gesichter der Erzählenden, wenn ich gehe, ein Dank. Ich sammele auch Erfahrungen über den Umgang mit Leid und Schmerz, wie ich es noch nicht ertragen musste. Andererseits sind meine Erinnerungen und mein Verständnis oft auch eine Hilfe für die Besuchten. Die Gegenseitigkeit bereichert mein Leben!

Das machte mir Mut, auch außerhalb des geschützten Klinikraums ehrenamtlich tätig zu werden. Vor wenigen Wochen bat mich eine alte Dame um Hilfe bei Krankenkassenfragen. Das ist nicht gerade mein Spezialgebiet, aber – ich versuchte mein bestes! So brachten wir gemeinsam ein Gespräch mit dem medizinischen Dienst um die Pflegestufe  erfolgreich hinter uns, nahmen Kontakt auf zum ambulanten Pflegedienst, erhielten aus den Sanitätshäusern einen Rollator und Pflegemöbel für die tägliche Hygiene, bekamen einen Notrufknopf installiert, erhielten über den Nachbarschaftsverein eine freundliche Reinigungshilfe… Jedes Problem, das sich vor uns auftat, erwies sich im Lösen stets nur als Problemchen, denn die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft aller Angesprochenen waren  wunderbar groß und bereitwillig. Eine beglückende Erfahrung! Ich hatte gar nicht gewusst, dass es in Wurzach so viele „Engel“ gibt! – Und auch den bürokratischen „Kampf“ mit der Krankenkasse habe  ich mit Hilfe eines kompetenten, freundlichen Mitarbeiters gewonnen! Innerhalb einer halben Stunde sortierte er unseren Papierkram, tippe in den Computer, zeigte , an welcher Stelle unterschrieben werden musste, notierte die noch fehlenden Unterlagen – und am nächsten Tag war der dicke Brief auf der Post! Danke!

Ich durfte meine alte Dame auch im Krankenhaus begleiten, ihre Hand halten, mit ihr reden, sie für ihren letzten Weg stärken, mit ihr weinen und lachen. Dabei half mir das Gespräch mit einer Dame unserer Hospiz-Gruppe sehr.  Auch der letzte Weg auf dem Friedhof zum Grab gehört   in meine reichen Erfahrungen mit Begegnungen im Ehrenamt in der dritten Lebenshälfte. Steht  er doch einem Besuch auf der Baby-Station im Memminger Krankenhaus extrem gegenüber, bei dem ich als „Wunschoma“ mein zweites Enkelkind h.c. in den Arm nehmen durfte… So umfasst mein Engagement in der dritten Hälfte das ganze Leben in allen lebendigen Begegnungen mit so vielen unterschiedlichen Menschen und Situationen. Es lohnt sich also, zu schauen, wo ich (noch) etwas tun kann, selbst wenn es  eigentlich gar nichts besonderes ist…

Ein Lied des diesjährigen Weltgebetstages bringt es auf den Punkt:

 

„Mittendrin steht einer einfach auf.

Was er tut stört den gewohnten Lauf.

Mittendrin geschieht, was zählt,

sehn, was meinem Nächsten fehlt,

ist ein Dienst der radikal von Liebe spricht.

 

Do you know what I have done to you?

Mensch, begreife, was ich für dich tu!

Wusch die Füße, bin dir nah,

lehre dich, was einst geschah!

Mach‘s wie ich und sei für deinen Nächsten da!

 

Jesu Ruf ist unbequem, doch wahr:

Lebet meine Liebe stark und klar!

Unbestechlich in der Tat!

Aufrecht lebt, wer Demut wagt.

Folgt mir nach! Ich bin bei Euch!

Seid unverzagt!“

(Dr. George Mulrain, Bahamas)

 

Macht Ihnen das nicht auch Lust auf Engagement in der dritten Hälfte?

 

Christine Silla – Kiefer

Prädikantin in der

Evangelischen Landeskirche

Baden-Württemberg

Druckversion | Sitemap
© Dr. Friedrich Reitzig, Pfr. i.R.