Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.
Dr. Friedrich Reitzig, Pfr.i.R.

… und einer war nicht bei ihnen.

Liebe Leserinnen und Leser,

was ist daran schon erwähnenswert, dass einer fehlt? Das ist doch etwas Alltägliches. Wann sind schon alle anwesend? Irgendeiner ist immer verhindert, -dienstlich oder privat. Gründe ließen sich haufenweise anführen. Warum also so viel Aufhebens wegen einer Banalität? Was macht es so berichtenswert, dass einer fehlte? Wenn es nicht die Tatsache des Fehlens als solche ist, dann muss der Grund anderweitig zu suchen sein.

Durch sein Fehlen scheint er etwas versäumt zu haben, weil er offenkundig nicht zur rechten Zeit am rechten Ort war. Nicht das Fehlen wäre dann das Problem, sondern das Versäumen. Wird man dadurch um eine wertvolle Erfahrung gebracht, kann es durchaus schmerzhaft sein und einen aus der Bahn werfen. Manche solcher Fehlstellen lassen sich kaum mehr beheben. Sie hinterlassen Lücken und prägen auf ihre ganz eigene Weise die Zukunft.

 

Eine ähnliche Situation scheint hinter der oben genannten Feststellung zu stehen. Und einer war nicht bei ihnen, Thomas nämlich, einer aus dem Jüngerkreis. Weshalb er fehlte, bleibt ungenannt. Berichtet wird nur, dass Jesus während seiner Abwesenheit ganz unangekündigt seinen Mitjüngern erschien. Thomas hatte also keinen Termin im Kalender übersehen, so dass man ihm seines Fehlens wegen einen Vorwurf machen könnte. Nein, er war eben nicht da. Darüber aber versäumte er eine wichtige und prägende Begegnung, -die Begegnung mit dem Auferstanden nämlich.

Als er zurückkam und ihm davon berichtet wurde, konnte er nur ungläubig den Kopf schütteln. Unwirklich, irreal kam ihm das alles vor. Diese Botschaft war für ihn von einem anderen Stern. Unglaubhaft. Das Zeugnis irre geleiteter Hirne. Deshalb seine durchaus verständliche Reaktion: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.“ Thomas steht damit vor uns als einer, mit dem wir viel gemeinsam haben. Er kann und will nur glauben, was er gesehen, noch besser, was er berührt hat. Er will sich von der Echtheit der Erscheinung überzeugen können. Allein das Wort der anderen genügt ihm nicht. Deshalb wird er gemeinhin auch als der ungläubige Thomas bezeichnet.

Dann aber -eine Woche später- geschieht das Unglaubliche. Jesus erscheint erneut in der Runde der Jünger. Und Thomas ist anwesend. Jesus ruft ihn zu sich und fordert ihn auf, nun zu tun, was er im Jüngerkreis eingefordert hat, -seine Hand in seine Seite zu legen und die Finger in seine Nägelmale. Doch mit einem Mal ist das für ihn von vollkommen untergeordneter Bedeutung. Er kann nur noch sagen: „Mein Herr und mein Gott.“ Er hat zum Glauben gefunden, -zum Glauben durch Schauen. Jesus aber schreibt ihm wie uns ins Stammbuch „Selig, wer nicht sieht und doch glaubt.“

Thomas, -einer wie wir: Er fehlte damals und tat sich mit dem Glauben schwer. Erst durchs Sehen, Fühlen und Begreifen konnte er seine Zweifel überwinden. Für ihn gab es eine zweite Chance, die allerdings sein Bedürfnis nach Begreifbarem in den Hintergrund treten ließ. Als Nachgeborene haben wir, so könnte man meinen, diese zweite Chance nicht. Ist uns damit das Glauben unmöglich geworden? Auf den ersten Blick vielleicht schon. Doch damals wie heute bleibt uns das Wort Jesu, seine Anrede an uns, seine Einladung zum Glauben allen Verborgenheiten und Versäumnissen zum Trotz. Die Begegnung mit Jesus und seinem Wort ist, wenn man es genau nimmt, die eigentliche Macht, die uns den Schleier von den Augen nimmt. Wer ihm vertraut, -wer ihn darum bittet, dem vermag er auch heutzutage die Augen zu öffnen und das Herz. Dann sehen wir seine Anwesenheit mit den Augen des Herzens und erfahren, was es heißt: „Selig, wer nicht sieht und doch glaubt.“

 

Kurseelsorger Friedrich Reitzig, Pfarrer.

Ernst Barlach: Das Wiedersehen
Druckversion | Sitemap
© Dr. Friedrich Reitzig, Pfr. i.R.